Merhaba Discount: Schönen Feier und Abend
Man weiß erst, was man hatte, wenn es fort ist. Mit dem Merhaba Discount geht ein Herzstück des Moabiter Lebens verloren. Aber die Menschen werden seiner gedenken.
Zwischen verbrannten Pizzen und Vollrausch wurde unser Autor erwachsen. Bis die Realität ihn aus seiner Wohnung zwang und damit eine ganze WG ins Unglück stürzte.
Am Anfang fühlte ich mich, als weidete man mich auf einer grünen Aue. Nur dass ich nicht weidete, sondern Bier trank, die Aue nicht grün war, sondern betongrau und auch keine Aue, sondern Moabit. Ich war Anfang 20 und zog zum Studium aus der westdeutschen Einöde ins große Moabit. Dort wurde ich zum Menschen. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens. Bis der Herrgott mich eines verfluchten Tages jäh des Paradieses verwies.
Nun war es nicht wirklich Gott, der mich aus meiner Wohnung warf, sondern mein Vermieter. Aber in seiner Allmacht, Rachsucht und boshaften Willkür kam er mir und meinen Mitbewohnern vor wie der alttestamentliche Gott. Er veränderte unser Leben und zwang uns gleichzeitig, erwachsen zu werden.
Moabit war gut zu uns gewesen
Moabit war gut zu uns gewesen. Wir lebten in der Emdener Straße, im Nordwesten, aber südlich der Nordwestoase. Direkt beim Kaisers, der heute ein Rewe ist. Um die Ecke von Risa und City Chicken, von Big Bascha und El Reda. Wir gingen mehrmals pro Woche in besagte Oase oder ins Cafe Cox, in die Quelle oder den Kaputten Heinrich. Nebenan feierte der Kapitän Kiez seine regelmäßigen Partys, zwei Häuser weiter lebte unsere Partner-WG, eine Gruppe junger Frauen aus Süddeutschland. Kurz: Wir lebten in Moabit.
Unsere WG war derweil das Letzte. Ich lebte dort mit einem Kumpel aus meiner Heimat und zwei Frauen. Später einer Frau und einem anderen Kumpel aus der Heimat. Dann mit einem Kumpel meines Kumpels aus der Heimat und zwei Cousinen aus Spanien, die sich den Sommer über ein Zimmer teilten. Ich habe sicher zwei Dutzend Menschen in unserer WG leben sehen. Einige für Monate, andere für Jahre.
Meine Mitbewohnerin etwa verliebte sich einmal in einen Freund aus der Heimat, der kurz darauf aus seiner Wohnung flog und deshalb bei uns in die Essenskammer neben der Küche zog. Fünf Quadratmeter, mit einem Heizkörper, zwei Fenstern und der Gewissheit, alles mitzubekommen, was im Klo passiert, das daran grenzte. Miete nahmen wir dafür nicht, dafür schmiss er im Streit mit unserer Mitbewohnerin hin und wieder das Geschirr kaputt und kam ein paar Tage später reumütig mit Ikea-Zeug angeschlichen, um sich zu entschuldigen.
Gleichzeitig galt unsere WG als Mittelpunkt des Freundeskreises. Das ist gar nicht selbstverständlich, denn wer einmal nach Moabit gereist ist, weiß, dass man sich das zweimal überlegt. Unsere Freunde aber kamen aus ganz Berlin zu uns, um am Küchentisch Schnaps zu trinken und Schlager zu hören, die mein Mitbewohner in einem Koffer bunkerte, den er von seiner Großmutter bekommen hatte, dem Schlagerkoffer. Es war immer nur eine Frage der Biere, bis er der Gruppe in der Küche die Entscheidung aufzwang, welche Kassette wir nun hören würden. Die Flippers? Roland Kaiser? Udo Jürgens? Am Ende war es den meisten egal.
Eines Tages entriss man uns dieses Leben.
Wir hatten die beste Zeit. Wir lebten unbeschwert, arbeiteten nur so viel wie wir mussten, was nicht viel war, weil Berlin damals noch Verschwendung erlaubte. Wir studierten, aber auch damit ließen wir uns Zeit. Wir hatten ja ein Leben zuhause und dieses Leben war wichtiger als die Zukunft. Eines Tages entriss man uns dieses Leben.
Es begann, als mein Mitbewohner ein Auslandssemester machen wollte. Er wusste, danach würde er nicht zurückkehren in die WG, in der an manchen Morgen kaputt gefeierte Italiener in der Küche lagen, während er frühstücken wollte. Er würde ausziehen. Und wollte aus dem Mietvertrag austreten. Also rief ich unsere Hausverwaltung an. Sie sagte, dass das gar kein Problem wäre. Ich müsse den Vertrag nur kündigen, dann würde sie uns einen neuen schicken, ohne Mieterhöhung oder dergleichen, da müssten wir uns keine Sorgen machen. Nur unterschreiben sollten wir den neuen und dann wäre alles wie vorher. Gar kein Problem, dachte ich.
Wir lebten also weiter unser Leben. Manchmal ging ich vor der Uni am Plötzensee joggen, um anschließend im Seminar einzuschlafen. Erste Dates lud ich selbstverständlich in die Quelle ein, denn eine Frau, die keine Eckkneipen mochte, war keine, mit der ich eine Zukunft wollte. Alle paar Wochen stank die Wohnung nach ätzendem Qualm, wenn wieder jemand nachts nach Hause gekommen war und vor dem Schlafengehen noch eine Pizza in den Ofen geschoben hatte. Um dann einzupennen und die Pizza zu einem schwarzen Kohletaler verbrennen zu lassen. Es war toll. Nur: Der neue Mietvertrag kam nicht.
Der neue Mietvertrag kam nicht
Ich rief kurz vor Ende der Kündigungsfrist die Hausverwaltung an. Wo denn der Vertrag bliebe, wollte ich wissen. Die Frau am Telefon tat dumm. „Nein, einen neuen Vertrag kriegen Sie nicht. Sie müssen ausziehen“, sagte sie. Immerhin, nachdem sie Rücksprache mit dem göttlichen Wesen gehalten hatte, das seine Unterschrift unter den Vertrag hätte setzen sollen, ließ sie sich breitschlagen, uns einen Monat Aufschub zu schenken. So hatten wir wenige Tage und einen Monat, um die WG aufzulösen und neue Wohnungen zu finden.
Ich zog nach Mitte, an die Jannowitzbrücke. Mein Mitbewohner nach Schottland, eine Mitbewohnerin nach Lichtenberg. Wir verstreuten uns in die halbe Welt. Wir waren Vertriebene, Heimatlose. Arm und ängstlich gingen wir auf WG-Castings, entblößten unsere Seelen und Finanzen. Wir waren auf uns allein gestellt, jeder für sich. Die WG-Familie war hinterrücks erdolcht worden, nun mussten wir uns selbst Familie sein. Es war beschämend. Es war traurig. Und doch erlebten wir seit langer Zeit mal wieder Selbstwirksamkeit. Nur Moabit wurde Stück für Stück zum immer weiter entfernten Traum. Ein Traum, an dem unser Leben begann und unsere Jugend endete.
Das Magazin für Moabit