Jetzt kommt die Vielfalt der Welt nach Moabit. Eine Buchhandlung, geführt von der Literaturagentin Sharmaine Lovegrove. Die möchte den Verlagen zeigen, was sie falsch machen.
Wir haben unseren Veranstaltungskalender überarbeitet und um neue Quellen ergänzt. Hier ein Überblick über die wichtigsten Neuerungen:
1. Neue Filtermöglichkeiten
Warum die Nord-West-Apotheke nach 133 Jahren schließen muss
Für viele Menschen in Moabit wird es bald mühsam, wenn sie krank sind. Die Apotheke in der Rathenower Straße macht zu – obwohl es ihr wirtschaftlich gut geht. Was ist da los?
Rechts hinter den haselnussbraunen Schränken der Nord-West-Apotheke wartet der Botendienst-Mitarbeiter auf den Abschied. Sein Job ist es, Patienten die Medikamente nach Hause zu bringen. „Schon wieder Feierabend?“, fragt ihn Ernst-Joachim Jost, der Inhaber der Apotheke. „Was für ein Leben“, sagt der 69-Jährige.
„Wie lange macht ihr jetzt noch genau?“, fragt der Bote. „Bis nächste Woche Samstag“, ruft die pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin. Der Bote verabschiedet sich, sein Arbeitstag ist vorbei. Auch für die Nordwest-Apotheke ist es bald vorbei, nach 133 Jahren. Ihr letzter Feierabend wird am 29. November 2025 sein. Wie konnte es dazu kommen?
Zwei Herausforderungen waren zu viel: Personalmangel und der Berliner Immobilienmarkt. Dabei hat die Nord-West-Apotheke schon zwei Weltkriege überstanden, zwei Weltwirtschaftskrisen und unzählige Gesundheitsreformen. Und sie ist nur ein Beispiel für ein Massensterben, das schon seit Jahrzehnten die Apothekenlandschaft ausdünnt.
Das Apotheken-Sterben
In ganz Deutschland sinkt die Zahl der Apotheken schon seit der Jahrtausendwende. Damals, im Jahr 2000, gab es noch 21.592 Apotheken, Ende des Jahres 2024 waren es noch knapp 17.000. Allein bis Oktober 2025 kamen nochmal 355 Schließungen hinzu, die Nord-West-Apotheke noch nicht mitgezählt.
Die Nord-West-Apotheke reiht sich in diese Liste ein und ist damit in Moabit nicht allein. Im Keller der Nord-West-Apotheke steht eine angestaubte Tafel, die anzeigt, welche Apotheken in Moabit irgendwann mal während des Nacht- und Notdienstes geöffnet waren. Stefan-Apotheke steht darauf, Fichte-Apotheke, Wissmann’s Apotheke. Sie alle haben innerhalb der letzten Jahrzehnte geschlossen, genauso wie die Rathenower Apotheke und die Tucholsky-Apotheke.
Foto: Marius Penzel
Auf der alten Tafel steht auch: Alte Roland Apotheke, Arminius-Apotheke, Oldenburger Apotheke und Saturn-Apotheke. Sie gibt es noch, auch wenn die Saturn-Apotheke heute Spree-Apotheke heißt. Mit der Apotheke im Schultheiss Quartier – die eine Jury im Jahr 2024 gar als schönste Apotheke in Deutschland wählte – und der Apotheke 4.0 gibt es direkt an der U-Bahn-Haltestelle Turmstraße Apotheken, die zu einem großen Verbund gehören.
Doch die Nord-West-Apotheke war die letzte Apotheke, die im nordwestlichen Teil Moabits zwischen Stromstraße, Turmstraße und S-Bahn-Trasse ihren Platz hielt. Für diejenigen, die hier wohnen, werden die Wege weiter, wenn sie Rezepte einlösen wollen. Aber es ist nicht nur der kurze Weg der Kunden, sondern die Geschichte einer Kiez-Instititution, die verlorengeht, in der sich auch die deutsche Geschichte spiegelt.
Kaiserreich, Republik und Nazi-Zeit
Am 7. Oktober 1892 gründet Alfred Skubich die Nord-West-Apotheke, damals noch im Kaiserreich. Skubich verwaltete vormals die Apotheke der Nervenheilanstalt, die später als Karl-Bonhoeffer Nervenklinikum bzw. „Bonnies Ranch“ bekannt wurde.
Bereits 1903 verkaufte Skubich seine Apotheke an Ludwig Louis Mottek. Der war damals erst Anfang 30. – So erlebte die Apotheke den Umbruch von der Monarchie zu einer demokratischen Republik. Mottek leitete sie anschließend nämlich fast 36 Jahre.
Bis das nicht mehr ging, denn Mottek war Jude. 1936 zwingt ihn das Nazi-Regime, seine Apotheke zu verpachten. Nutznießer wird ein NSDAP-Mitglied und Sturmbannführer, aber Mottek bleibt trotzdem der Leiter. Als der Reichsinnenminister im Mai 1939 die „Entjudung von Apothekenbetriebsrechten“ verfügt, wird Mottek gänzlich aus seiner Apotheke gezwungen. Das Regime friert sein Vermögen ein und versteigert seinen Besitz. Im Herbst 1941, nur einen Monat bevor die Nazis Juden die Ausreise verbietet, flieht Mottek mit seiner Ehefrau nach New York, wo seine beiden Töchter bereits leben.
Nach Kriegsende fordert Mottek sein Eigentum – die Nord-West-Apotheke – zurück. 1948 beantragt er in New York die Rückerstattung des Betriebsrechts seines Geschäfts in Moabit. Das Verfahren endet 1952 mit einem Vergleich, aber weil er bereits 1950 stirbt, geht die Apotheke an seine Witwe Margarete Mottek über. Diese verkauft sie 1953 an Ernst Jost. Er ist der Vater des heutigen, endgültig letzten Inhabers, Ernst-Joachim Jost. Er übernimmt den Familienbetrieb im Jahr 1986 und ist nun derjenige, der ihn zu Grabe tragen muss.
Alles wird gesucht, und nichts gefunden
Die Gründe dafür, dass in den letzten Jahren so viele Apotheken für immer schließen, sind vielfältig. Doch Experten und Inhaber nennen vor allem zwei Hauptursachen: Einerseits werde alles teurer, die Regierung aber habe die Honorierung der Apotheken seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erhöht.
Apotheken erhalten den Großteil ihres Einkommens von den Krankenkassen. Die geben einen festen Betrag für zum Beispiel die Versorgung, Beratung, Lagerhaltung, Miete und Personalkosten für jedes Medikament, das Patienten per Rezept in einer Apotheke einlösen.
Daran lag es für Ernst-Joachim Jost und die Nord-West-Apotheke nicht, im Gegenteil: Er sagt, dass er wirtschaftlich besser dastehe als noch vor 20 Jahren. Denn weil so viele Apotheken im Norden Moabits bereits vor ihm aufgaben, wechselten viele von deren Stammkunden zu ihm. Mehr Rezepte, die Patienten einlösen, heißt für die Apotheke: Mehr Geld. Und bessere Chancen, einen Nachfolger zu finden. „Ich bin immer davon ausgegangen, eine Verkaufsmöglichkeit zu bekommen“, sagt Jost.
Für ihn lag es eher am zweiten Grund, aus dem viele Apotheken heute schließen: dem Personalmangel. „Erstmal kommen zu wenige Apotheker auf den Markt“, sagt er. Und diejenigen, die fertig werden, wollen nicht mehr unbedingt den zeitintensiven Job übernehmen, eine Apotheke zu leiten. Auf der Website der Apothekerkammer Berlin seien weit mehr als 100 Stellen für Apotheker*innen und Pharmazeutisch-Technische Assistent*innen offen. „Alles wird gesucht und kaum jemand wird gefunden“, sagt Jost.
Ernst-Joachim Jost leitet die Apotheke nun seit 39 Jahren und hat damit den Rekord von Ludwig Louis Mottek gebrochen, der 36 Jahre bis in die NS-Diktatur hinein Inhaber war – allerdings ungewollt. Bereits seit 2021 versuchte Jost, einen Nachfolger für seine Apotheke zu finden.
Foto: Thomas Ming-Hui Stanka
Der Inhaber fand eine Reihe von Interessenten. Doch die sprangen nach und nach wieder ab. Nur ein potenzieller Nachfolger blieb – und sagte zu, die Nord-West-Apotheke Anfang des Jahres 2023 zu übernehmen. Jost gab einen Kaufvertrag in Auftrag, aber eines fehlte noch: Der Mietvertrag für den neuen Besitzer.
„Ich bin als Mieter in der schwächeren Position“, sagt Jost
Dieser wurde der Apotheke zum Verhängnis. Für den Hauseigentümer – einen Immobilienfond – kam nicht in Frage, den alten Mietvertrag dem Nachfolger zu überlassen.
Sie teilten mit: Ohne Renovierung könne man die Räume nicht weitervermieten. Die Elektrik, verlegt als Aufputz, sei nicht mehr auf dem Stand der Zeit. Und forderten: Die Apotheke müsse für einige Monate geschlossen und geräumt werden. Die Einrichtung muss weg und die Medikamente müssen zwischengelagert werden. Die Medikamente einer Apotheke sind zusammen im Schnitt mehr als 100.000 Euro wert, Vieles droht in der Zwischenzeit, das Verfallsdatum zu erreichen. Danach würde ein neuer Mietvertrag zu höheren Kosten auf den Nachfolger der Apotheke warten.
„Ich bin als Mieter in der schwächeren Position“, sagt Jost. Der Apotheker habe versucht, den Kontakt zwischen der Hausverwaltung und dem potenziellen Nachfolger aufrechtzuerhalten. Doch der habe bald gesagt: „Nein danke“, und sei mit einer anderen Apotheke in einem anderen Berliner Bezirk fündig geworden.
Schließlich wetteifern heute viele alternde Apotheker um wenige Interessenten. „Der Käufer kann sich aussuchen, welche Apotheke er nimmt“. Jost hat diesen Wettkampf verloren.
Es gab noch die Option, den Mietvertrag letztmalig bis zum Jahr 2030 zu verlängern: Mit Jost, der heute 69 ist, als Chef. Doch „ich kann nicht mehr garantieren, dass ich das gesundheitlich schaffe“, sagt er. Also entschied er sich gegen diese Option – auch wenn das heißt, die Nord-West-Apotheke zu schließen.
Foto: Thomas Ming-Hui Stanka
Nun beraten Jost und seine Kolleginnen die letzten Kunden hier an einem der zwei Beratungsplätze in der nur wenigen Quadratmeter kleinen Offizin, vor den haselnussbraunen Apothekerschränken im Stil der 60er Jahre.
Auf den Schränken stehen rätselhafte, uralte Apothekengegenstände: Glasapparaturen, Arzneimittelmühlen, glänzende mechanische Waagen oder verstaubte, gelbe Bücher, die noch vor dem ersten Weltkrieg gedruckt wurden.
Einige wenige Gegenstände werden die noch-Mitarbeiter*innen mitnehmen – als Erinnerung an einen Ort, der 133 Jahre lang nichts anderes tat, als Menschen bei der Genesung zu unterstützen. Bis das nicht mehr ging.
Jetzt kommt die Vielfalt der Welt nach Moabit. Eine Buchhandlung, geführt von der Literaturagentin Sharmaine Lovegrove. Die möchte den Verlagen zeigen, was sie falsch machen.
Es ist nicht alles Trash, was billig wirkt. Der Pamuk-Shop hat den Beusselkiez erst lebenswert gemacht. Mittlerweile ist er fort. Unser Autor will die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.
Alles ist vergänglich. Bei manchen Dingen macht uns das traurig, bei anderen freut es uns. Und Street Art wäre ohne gar nicht denkbar. Schade nur, dass es so schwer ist, das zu akzeptieren.