Merhaba Discount: Schönen Feier und Abend
Man weiß erst, was man hatte, wenn es fort ist. Mit dem Merhaba Discount geht ein Herzstück des Moabiter Lebens verloren. Aber die Menschen werden seiner gedenken.
Nach fast 20 Jahren endet das wichtigste Kunstfestival im Kiez. Dabei war dessen Angebot einzigartig. Und die Gründe sind reichlich fragwürdig.
Venedig hat die Biennale, Kassel die documenta, Neukölln seine 48 Stunden – und Moabit hatte den Ortstermin. Seit 2006 fand das beliebte Kunst- und Kulturfestival jährlich in Moabit und im Hansaviertel statt. Mit seinem Ende 2025 verliert Moabit einen wichtigen Teil seiner Identität. Über Jahrzehnte war der Ortstermin ein fester Punkt im Kunst- und Kulturkalender der Stadt: An drei Tagen öffneten die in Moabit ansässigen Kunst- und Kulturschaffenden ihre Ateliers und organisierten Ausstellungen zu einem Jahresthema. Plötzlich tauchte Kunst in Kellern und auf Dachböden, in Bars und zwischen Kirchenreihen auf. Genau das war der Reiz – dieses Gefühl, auf eine Entdeckungsreise durch den eigenen Kiez zu gehen.
Vom „Inselglück“ zum Ortstermin
Der Galerist Christian Hamm gründete den Ortstermin im Jahr 2006 zusammen mit Ralf Hartmann. Anfangs hieß es noch „Moabiter Kulturtage Inselglück“, bevor es 2011 den heutigen Namen Ortstermin bekam. „Das Festival ist durch seine Insellage in Moabit eines der kleinsten Kunstfestivals in Berlin. Das Besondere ist diese Intimität.“, sagt Veronika Witte. Sie ist die künstlerische Leiterin der Galerie Nord des Kunstvereins Tiergartens, die das Festivalzentrum des Ortstermins war. Kleine Teams konzipierten und organisierten jede Ausgabe mit Herzblut und vielen ehrenamtlichen Helfer*innen. „Das Festival hat maßgeblich dazu beigetragen, Moabit auf die Landkarte von Kunst- und Kulturschaffenden zu bringen“, sagt Witte. Und das mit Erfolg: Das umfangreiche Programm zog in den vergangenen Jahren im Schnitt mehr als 10.000 Besucher*innen zum Ortstermin.
Flüchtige Wunderkammern
Im letzten Jahr entdeckte ich beim Ortstermin eine abgefahrene Trickfilmwerkstatt mit angeschlossener Glasbläserei, in der Musikinstrumente wie von alleine spielten und ich mich sehr über eine Drehorgel amüsierte, die einen muhenden Kuh-Chor erzeugte. Von verzauberten Hinterhöfen voller Ateliers, Werkstätten und unendlicher Kreativität, die man hinter den brutalistischen Fassaden gar nicht vermutete, bis hin zu durchgestylten Lofts, in denen ganz unscheinbar hochkarätige zeitgenössische Kunstwerke hingen, war wirklich alles dabei. In der dunklen Tiefgarage eines Wohnhauses hatte eine Galerie mannshohe Wachsinstallationen platziert. Dramatisch ausgeleuchtet wirkten diese Skulpturen zwischen den parkenden Autos und abgestellten Fahrrädern fast lebendig und ehrlicherweise auch etwas bedrohlich. Viele Orte, an denen wir täglich vorbeigehen, wurden durch den Ortstermin zu einzigartigen Spielstätten der Kunst. So verwandelten Glasäpfel in der Unterkunft für Wohnungslose in der Lübecker Straße das dortige Treppenhaus in ein buntes Lichtspiel. Räume, die sonst unscheinbar oder gar unsichtbar blieben, öffneten sich und verwandelten sich in kleine Wunderkammern.
Viele Orte, an denen wir täglich vorbeigehen, wurden durch den Ortstermin zu einzigartigen Spielstätten der Kunst.
Kunst in Kneipen
Ich fand am schönsten, Kunst in ungewohnten Räumen zu erleben und zu sehen, wie sie ganz spielerisch in den Alltag rutschte. 2023 etwa, unter dem Motto „GAST/SPIELE“, beschäftigte sich der Ortstermin mit dem Thema des Gastgebens und mit der Frage, wie nach Jahren der Corona-Isolation wieder Gemeinschaft stattfinden kann. Im Fokus standen dabei alteingesessene Kneipen im Kiez. Aber auch hippe Szenecafés oder Hotelzimmer wurden zu Kunst-Orten. In geführten Rundgängen lernten die Besucher*innen diese sozialen Treffpunkte und die darin ausgestellten Werke zwischen Tresen und Zapfhahn näher kennen.
Doch nicht nur Führungen bot der Ortstermin an: Es gab Lesungen, Performances, Filmvorführungen, Tanz und Theater. Was den Ortstermin so besonders machte, war seine Nahbarkeit. Man brauchte keine Vorkenntnisse, kein „Insiderwissen“, keinen Abschluss in Kunstgeschichte oder besondere Kontakte – man konnte einfach losziehen, Neues entdecken, ins Gespräch kommen, sich inspirieren lassen. Ich verbinde viele schöne Momente mit dem Ortstermin, ärgerte mich jedes Mal, wenn ich das Festival wegen einer Reise oder Arbeit verpasst habe.
Das abrupte Ende
Und jetzt das: Kurz vor seinem zwanzigjährigen Jubiläum ist Schluss für den Ortstermin. Im Frühjahr veröffentlichte der Kunstverein Tiergarten ein Statement auf seiner Website – 2025 werde das Festival nicht stattfinden. Die bisherige Förderung wurde durch eine neue Ausschreibung ersetzt, die nun ein gemeinsames Festival für Moabit und Wedding (Unter dem Titel "MoWe") vorsieht. Für viele Beteiligte war es ein Moment, in dem alles mühsam Errungene mit einem Mal zerbrach. All das Engagement der vergangenen Jahrzehnte, das gewachsene Wissen aller Beteiligter, die Netzwerke aus hunderten Künstler*innen und Orten und nicht zuletzt unzählige ehrenamtliche Arbeitsstunden – alles stand plötzlich in Frage.
Ein Festival, das fast zwei Jahrzehnte lang Moabit geprägt hat, wird ausgerechnet an einem bürokratischen Detail abgewickelt
Der Kunstverein Tiergarten bewarb sich auf die neue Förderung und erhielt von der eingesetzten Fachjury die Empfehlung zur Umsetzung. Doch die Vergabestelle gab den Zuschlag an den Zweitbietenden. Grund dafür war, dass der Kunstverein Tiergarten ein formales Kriterium nicht vollumfänglich erfüllen konnte. Trotz der herausragenden Qualität der Bewerbung hat diese Hürde die Fortsetzung des Ortstermins zu Fall gebracht. In der Stellungnahme des Kunstvereins heißt es dazu: „Damit scheiterte unsere Bewerbung an den für Kunst- und Kulturprojekte unverhältnismäßig starren Richtlinien: Das Vergabeverfahren wurde für Bau- und Lieferleistungen von öffentlichen und privaten Auftraggebern entwickelt – nicht für Kultur- und Kunstprojekte.“ Mit anderen Worten: ein Festival, das fast zwei Jahrzehnte lang Moabit geprägt hat, wird ausgerechnet an einem bürokratischen Detail abgewickelt.
Damit geht eine Ära zu Ende. Die Fassungslosigkeit um so einen Umgang mit Kunst und Kultur in Berlin wiegt schwer bei allen Beteiligten des Ortstermins. Aber Zeit zu trauern ist nicht, denn der Bezirk holt schon zum nächsten Schlag aus: Auch die Räume der Galerie Nord wurden wieder öffentlich ausgeschrieben. Hier steht die Entscheidung, wer den Zuschlag bekommt, noch aus.
Der Ortstermin hat mir gezeigt, dass Kunst nicht nur in Museen stattfinden kann, sondern auch direkt vor meiner Haustür. Es bleiben Erinnerungen an unerwartete Entdeckungen und Begegnungen, Momente des Staunens und das Gefühl, für kurze Zeit Zugang zu einer ganz anderen Welt gehabt zu haben. Dass solche Erfahrungen nun an verwaltungstechnischen Hürden und politischen Entscheidungen scheitern, ist nicht nur ein Verlust für Moabit, sondern für die ganze Stadt.
ORTSTERMIN 23 Lilla Von Puttkamer und "Gemütliches Laternchen" von Selma Köran, Fotos: Michael Zeeh
ORTSTERMIN 24 Fabriktheater Moabit und David Gunderlach, Haus Kunst Mitte, Fotos: Martin Thoma
Das Magazin für Moabit