Moabit ohne Eckkneipen ist wie ein Klo ohne Spülung!

Wie soll der Mensch er selbst sein können, wenn es keine Orte mehr gibt, an denen er das darf? Unser Autor besingt das Kneipensterben.

Moabit ohne Eckkneipen ist wie ein Klo ohne Spülung!

Es war eine brutale Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit: Ich lief durch die Straßen Moabits, es muss vor etwa sieben Jahren gewesen sein. Ich stand dort am edlen Ort, Bremer Str. Ecke Waldenserstraße. Aber: Sie war weg, verschwunden, aufgesogen ins schwarze Loch der Gentrifizierung. Der Gedanke schoss in mein Hirn als brennende Erkenntnis: “Das Café Klatsch wurde geschlossen!”. Es tat schlimmer weh als der Kater nach vergangenen Nächten im Café Klatsch, dieser legendären Kiezkneipe. Der einzigen, in der ich erfolgreich Birnensaft bestellen konnte, ein Experiment, das bei Kellnern anderer Etablissements für fragende Blicke sorgte. Einer dieser sozialen Orte im Kiez, der nun einem Szene-Café wich. 

Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet

Ein paar Jahre später und alles ist vergiftet. „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet", hat Hans Magnus Enzensberger mal geschrieben. Es gilt hier gleichermaßen: Der Student zerstört die Eck-Kneipe, indem er sie des Nachts im Vollsuff entdeckt und morgens schon wieder vergessen hat – um sie im nächsten Rausch wieder zu finden.

Ich erinnere mich als unzuverlässiger Erzähler an meine Schulzeit, damals, als Bierkonsum ab neun Jahren erlaubt war und Jugendschutz als freundliche Empfehlung an das Spirituosen handelnde Gewerbe betrachtet wurde. Wochentags irrten wir durch die Straßen Moabits auf der Suche nach Beschäftigung. Clubs hatten noch nicht grundsätzlich von Montag bis Sonntag geöffnet, außerdem gab's die in Moabit ja eh nicht. Und: Wir sahen auch scheiße aus. Ich sehe mich noch vor mir, pseudoironisch eine kurze Hose von Opa um die Beine, die der sonst für die Gartenarbeit nutzte. Auf dem weißen T-Shirt ein schwarzer Totenkopf  und die Brille getönt – insgesamt ein Anblick der postmodernen Beliebigkeit.

Was also tun, um der Tristesse des heimischen Moabiter Familienalltags mit nervigen Eltern, Geschwistern, Haustieren, Nachbarn, Wohnung, und so weiter zu entfliehen? Was tun, wenn die Augen vom vielen Snake-spielen auf dem Nokia 3310 schon brennen? Wenn Mutti den Fernseher belagert, um sich beim Tetris-Zocken auf dem Second Screen des Gameboys nicht zu langweilen? Oder wenn das Counter Strike-Turnier ausfällt, weil die Viren den Familien-PC lähmen – die Gründe sind ein Fall für Akte X. 

Die Eck-Kneipe war ein heiliges Refugium

Die Eck-Kneipe war ein heiliges Refugium. An diesem Ort wurde Tristesse nicht besiegt, aber transzendiert. Nicht jede Eck-Kneipe war auf einer Ecke - da gab es zum Beispiel den Bierbrunnen auf der Alt-Moabiter. Oder eine kleine Kneipe am Ende der Jagowstraße, wo kriminell günstiges "Hartz-4-Bier" ausgeschenkt wurde. 80 Pfennig oder so, vielleicht auch 70 Ost-Mark-Cent – was weiß ich, ist 20 Jahre her oder so. Hier schenkte mir ein Mann mittleren Alters mal eine Rose, erworben vom Rosenverkäufer, wobei ich bis heute die Absicht nicht nachvollziehen kann – wollte er mich anmachen, oder nur sagen: “Schön, dass du dich mit mir betrinkst”. 

Eck-Kneipe war also nie eine Ortsbeschreibung, sondern drückte ein Lebensgefühl aus. Meist hatte man das Glück, dass von den circa vier Stammgästen (also den einzigen Gästen) einer einen hohen Pegel und damit Gesprächsbedarf hatte. Die Dialoge schwankten zwischen romantischer Sehnsucht, bittersüßer Melancholie und persönlicher Vergangenheitsbewältigung – oft kippten sie unvermittelt in den Wahnsinn.

Einmal saßen wir, alle irgendwas zwischen 16 und 18 Jahre alt, mit einem Paar biertrinkend beisammen (beide steinalt, also über dreißig) – ich glaube es war in der Kneipe Zur Quelle. Ein Klassenkamerad, nennen wir ihn Tom, berichtete von seiner Begeisterung für die schulische Musical AG, trällerte sogar ein Lied. “The Lion Sleeps Tonight” . Anschließend analysierte das Paar Toms Gesangstalent – es fehle noch das Gefühl; das mitreißende, die Affekte mobilisierende Emotionale. Sie verwiesen auf das Lied aus der Jukebox, vermutlich “My Heart Will Go On”, “We will Rock You”,“Dancing Queen” oder eine Mischung aus allen dreien. Plötzlich, der Bruch, die Stimmung kippte. Der Stammgast, nennen wir ihn Thorsten, brüllte Tom wutentbrannt an: "Du willst sie doch nur ficken!", und zeigte auf seine Partnerin, nennen wir sie Elfriede. Blicke erstarrten. Tom antwortete sowas wie “ähm, ne”. Damit war der Verdacht fürs Erste ausgeräumt, der Friede wiederhergestellt. Alle konnten sicher nach Hause torkeln. 

Heute ist die Eck-Kneipe ein Szeneort. Angeblich war Lenin früher Stammgast der Quelle. Was würde er heute sagen, wenn er käme, um zu saufen und zu agitieren – aber keinen Platz fände und nur auf blödelndes Partyvolk stieße? Vermutlich würde es keine Oktoberrevolution geben, stattdessen würde ein DJ Iljitsch mit Bierhelm auf Ibiza über 10 nackte Bolschewiki singen. Die Eck-Kneipe ist zum Spektakel geworden, zu laut und viel zu schrill.

Angeblich war Lenin früher Stammgast der Quelle

Ich erinnere mich noch daran, wie sich bei meinem Besuch einer an dieser Stelle nicht genannten Kneipe einer der Stammgäste zu mir setzte. Er hielt einen langen und bemüht lustigen Vortrag, der wirkte, als habe er ihn nur zu dem Zweck vorbereitet, eingeübt und auswendig vorgetragen, mich zu unterhalten. Nachdem er über seine angeblichen Jobs als Reinkarnationstherapeut und Türsteher berichtet hatte, kam er zum eigentlichen Punkt: "Und jetzt könntest du mir endlich mal ein Bier ausgeben!". Die Logik der sozialen Begegnung ist der Marktlogik gewichen. 

Eck-Kneipen sind nur noch ein Abbild des schlechten Ganzen, es gibt kein richtiges Leben im Falschen und so weiter. Aber die Gentrifizierung lehrt: Ein Leben mit ihnen ist trotz allem besser als ein Leben ohne sie! Bierbrunnen (Alt-Moabit 105), Café Klatsch und Zur Grünen Fliese: Rest in Peace!

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