Merhaba Discount: Schönen Feier und Abend
Man weiß erst, was man hatte, wenn es fort ist. Mit dem Merhaba Discount geht ein Herzstück des Moabiter Lebens verloren. Aber die Menschen werden seiner gedenken.
Man weiß erst, was man hatte, wenn es fort ist. Mit dem Merhaba Discount geht ein Herzstück des Moabiter Lebens verloren. Aber die Menschen werden seiner gedenken.
Manche Geschäfte bereiten Unannehmlichkeiten, wenn sie schließen. Bis November ist zum Beispiel der Rewe-Markt in der Turmstraße für Umbauarbeiten geschlossen. Aber selbst die Kunden, für die der Reiz des Marktes über den bloßen Erwerb von Lebensmitteln hinausgeht, müssen das Rewe-Feeling in dieser Zeit nicht missen; der nächste Markt befindet sich etwa fünf Gehminuten entfernt auf derselben Straßenseite.
Dann gibt es wiederum Geschäfte, bei denen viel mehr verloren geht, wenn sie schließen. Sie sind Orte mit einem ganz eigenen Charakter. Orte, mit denen man Erinnerungen und Begegnungen verbindet und die das eigene Kiez-Gefühl und -Erleben prägen. So ein Geschäft war der Merhaba Discount, der Ende August für immer zumachte. In seinen 39 Jahren in der Birkenstraße 44 wurden bei Merhaba Discount aus Kunden Nachbarn – oder in den Worten des Inhabers Ali Kamburoglu “Brüder und Schwestern”.
So nannte Ali seine Kunden gern. Es bereitete ihm besonders Freude, ein nachbarschaftliches Verhältnis zu ihnen zu pflegen und ins Gespräch zu kommen; sich zu kennen und auf der Straße zu grüßen, etwa wenn er morgens die Waren auslud. Einige Kunden kamen schon als Schulkinder in den Laden und kauften bis zuletzt bei ihm ein, später zusammen mit ihren eigenen Kindern. Er liebe sie alle, habe die “besten Kunden der Welt” gehabt, sagt Ali. Die alltäglichen Aufgaben waren klar verteilt: Ali kümmerte sich vor allem um den Verkauf, während seine Frau Tülin Salate und Brotaufstriche zubereitete und Kuchen backte.
Den Plan, einmal ein Geschäft zu eröffnen, hatte Ali nie. Zunächst kam er 1979 fürs BWL-Studium aus seiner Heimatstadt Antakya in der Türkei nach Deutschland. 1987 ergab sich dann die Möglichkeit, den Laden nach der Eröffnung von zwei Freunden zu übernehmen, die ihn nach einem Streit nicht mehr zusammen weiterführen wollten. Ali und Tülin entschieden sich dafür und ließen sich ein auf lange Arbeitstage. Von Waidmannslust, wo die beiden leben, ging es jeden Tag zum Laden nach Moabit, manchmal für 12, manchmal sogar für 15 Stunden.
Nun, am letzten Mittwoch im August, schließt Merhaba Disccount für immer. Efeu rankt bereits leicht über das Ladenschild, der Markt ist schon halb ausgeräumt. Davor tummeln sich Menschen, essen, trinken und unterhalten sich. Nur für ein paar Minuten wird es ruhig vor dem Laden, als Tilman, ein Stammkunde, mit seinem “Orbis Quartet” zur Feier des Tages und als Dankeschön das Lied “Al Bint El Shalabiya” (“Das schöne Mädchen”) spielt.
Den restlichen Nachmittag über sprechen Ali und Tülin mit den Menschen, die teilweise anstehen für einen letzten Plausch, um sich von ihnen zu verabschieden und ihnen alles Gute zu wünschen. Alle paar Minuten reden die beiden mit jemand anderem, schütteln Hände und umarmen sich. Für viele Kunden schließt nicht nur ein Lebensmittelmarkt; es verschwinden ein Ort und zwei Nachbarn, die zu einem vertrauten Teil des Kiezes und einem liebgewonnenen Stück des Alltags geworden sind.
Benni (35) lebt seit 15 Jahren in Moabit, das für ihn “ein kleines Paradies” ist – es sei zwar weniger los als in anderen Vierteln, aber es müsse sich nach seinem Geschmack nicht viel ändern. Seit er hier lebt, ist Merhaba Discount zu einem wichtigen Laden für ihn geworden, den man nicht ersetzen können wird. Er kaufte hier besonders gern Oliven, Pasten und Kaffee. Ein “Schnack” mit den Inhabern war dabei fester Teil des Einkaufs.
Caroline (44) und Friedemann (46) leben seit mehr als fünf Jahren zusammen in Moabit. Vor allem schätzen sie hier das diverse Publikum und die Ruhe im Vergleich zu anderen Bezirken. Überall gebe es schöne Orte, kleine “Oasen”, zu denen sie auch Merhaba Discount zählten. Bis sie zu Stammkunden wurden, verging aber mehr als ein Jahr. Von außen machte der Laden zunächst keinen Eindruck auf sie. Als sie dann doch einmal in den Laden gingen, dachten sie sich: “Wie cool ist das denn – sowas gibt’s wirklich noch?!”. Friedemann erinnerte der Laden an den Konsum, den er aus DDR-Zeiten kannte.
Anne (63) ist Erzieherin in einer Ganztagsschule in Steglitz und wohnt schon seit 28 Jahren in Moabit. Sie erinnert sich an eine Situation aus dem Jahr 2016, als viele der Schüler Fragen zur Situation in Syrien hatten, von wo viele Menschen auch nach Berlin geflohen waren. Da Alis Heimatstadt Antakya in der Grenzregion zu Syrien liegt, schickte sie die Schüler zu ihm. Auch wenn Ali alle Hände voll zu tun hatte und gleichzeitig seine Kunden bediente, empfing er die Schüler mit offenem Ohr und beantwortete geduldig ihre Fragen.
Die Räumlichkeiten des Merhaba Discount werden nun vom bisherigen Nachbarn übernommen, dem vietnamesischen Restaurant Platform 68. Christiane (75) findet das schade. Auch wenn sie das Restaurant sehr mag, hätte sie sich weiterhin einen Lebensmittelhändler dort gewünscht. Als die Künstlerin vor 15 Jahren nach Moabit zog, war Merhaba Discount einer der ersten Tipps, den man ihr gab. Der Laden war für sie nicht nur ein Gemüsehändler, sondern vielmehr ein Dorfplatz, an dem man auch mal einen Schlüssel hinter- oder Werbung auslegen konnte. Ein Ort der Begegnung, der alle einband, an dem sich alle wohl gefühlt haben. Eine besondere Erinnerung für sie ist das Porträt über Ali, das sie 2012 im Rahmen des Kunstprojekts “Lifelines” über ihn schrieb. Als Abschiedsgeschenk hat sie ihm das Interview von damals als Buch mitgebracht.
Neben der Freude über die Erinnerung an die schönen Momente schwingt auch Schwermut über den Abschied von Merhaba Discount aus Moabit mit. Künstlerin Christiane ist richtig traurig über den großen Verlust für den Kiez, den Wegfall dieses sozialen Zentrums, aber sie gönnt Ali und Tülin den Ruhestand sehr. Für Benni schließt jetzt ein Laden, der “ganz vielen Leuten ganz viel bedeutet” hat. Anne werden vor allem die Freundlichkeit, der Smalltalk beim Einkaufen, aber auch die selbstgemachten Auberginen-Schafskäse-Röllchen fehlen. Für Caroline und Friedemann verschwindet ein Nachbarschaftstreff voller Wärme und Herzlichkeit, wo man sich Zeit lassen konnte – und wo es den besten hausgemachten Hummus gab. Mit dem Schließen des Marktes geht für viele ein kleines, aber besonderes Stück Alltag verloren.
Auch für Ali und Tülin heißt es nun “Schönen Feier und Abend”, wie Ali gern seine Kunden verabschiedete. Die Entscheidung, das Kapitel “Merhaba Discount” nun zu beenden, sei keine leichte gewesen. Tülin habe gemischte Gefühle, sagt sie; sie sei schon traurig, freue sich aber gleichzeitig, nun mehr Zeit für ihre Familie zu haben, für ihre beiden Töchter, den Schwiegersohn und die Enkelkinder. Zunächst soll es aber nach Antakya zu Alis Familie gehen, an die er besonders seit dem Erdbeben vor zwei Jahren oft denkt. Seine Geschwister dort möchte er nun häufiger und länger besuchen.
So ganz werden die beiden nicht aus Moabit verschwinden. Für Tülin sind viele Kunden über die Jahre schließlich wie eine Familie geworden und sie sagt, sie wisse schon jetzt, dass sie alle sehr vermissen werde. Doch sie hat vorgesorgt und viele Telefonnummern gesammelt. Auch Ali möchte in Zukunft vorbeischauen, um zu sehen, wie es seiner Straße und seinen Kunden geht.
Und dann ist da noch das blaue Schild, das an diesem Nachmittag enthüllt wird, und das man fast übersehen könnte. “Ali-Tülin-Platz” steht darauf geschrieben. Womöglich wird es mit diesem Schild ähnlich sein wie mit Merhaba Discount: Manche werden daran vorbeigehen und es vielleicht nie bemerken. Für andere wird es die Erinnerung wachhalten an einen ganz besonderen Ort.
Das Magazin für Moabit